Direkt zum Seiteninhalt

Zwischenfall 1963 - Widdershausen aktuelles Projekt

Chronik Widdershausen
Menü überspringen

Zwischenfall 1963

Chronik 2 > Zonengrenze
Grenzzwischenfall in Widdershausen 1963

Vom Bundesgrenzschutz (BGS) Standort Alsfeld erreichten wir wie immer über die Autobahn den grenznahen Raum im Gebiet der Werra zwischen Philippsthal und Heringen.

Wir näherten uns einem Grenzbereich, der besonders problematisch war und als neuralgischer Punkt galt.
Die Grenzlinie führte dort mitten durch die Werra und auf einem ca. 8 m hohem Bahndamm führte eine Eisenbahnstraße von Widdershausen nach Dankmarshausen, d.h. von Ost nach West und umgekehrt. Für diesen Transfer der Kalizüge zahlte das Kaliwerk Wintershall sehr viele Devisen an die DDR.
Die alte Zonengrenze zwischen Widdershausen und Dankmarshausen in den 1960er Jahren, im Hintergrund ein alter Beobachtungsturm der Grenztruppen aus Holz und die ersten Häuser von Dankmarshausen auf dem Diesberg
Tunnel (Viadukt) unter dem Bahndamm in Widdershausen direkt neben dem Wendehammer an der Grenze zu Dankmarshausen, der Feldweg führt in den Flubereich Marbachsgraben
Kurz hinter einem Fahrweg, der unter dem Bahndamm hindurchführte und im Westen lag, verlief die Grenze quer über den Bahndamm. Der Bahnverkehr war hier nicht wie an anderen Bahnlinien unterbrochen, den wegen des Kalibergbaues verkehrten hier laufend Güterzüge über die Grenze hinweg. Die kritische Stelle war selbstverständlich rund und die Uhr von der DDR aus streng bewacht und gesichert.

Der westeigene Durchlass unter dem Bahndamm (Widdershäuser Flur) war denen im Osten schon immer ein Dorn im Auge, da diesem Zugang eine nicht unerhebliche taktisch-strategische Bedeutung zukam. Vor der Unterführung unterhalb des Bahndammes war ein Wendehammer, wo die Streifenfahrzeuge aus dem Westen wenden konnten.

Nachdem wir auf eine Anhöhe angekommen waren, ließ ich unsere beiden Streifenfahrzeuge, Jeeps des Fabrikats DKW, verdeckt anhalten und stieg aus um, wie es an dieser Stelle üblich war, unbeobachtet vom Osten zunächst einmal mit einem meiner Kameraden die Lage zu sondieren. Ich war zunächst überrascht, dass keine der ansonsten hier postierten Streifen des Zollgrenzdienstes zu sehen war. Dann folgte postwendend die zweite Überraschung. Auf den Bahndamm standen ca. 20 m von der Grenzlinie entfernt vier bewaffnete Grenzsoldaten der DDR-Grenztruppen und 2 Zivilisten mit Ledermandel und Schlapphut, vermutlich Angehörige des Staatssicherheitsdienst, eindeutig auf dem Gebiet der Bundesrepublik.
Eine Diesellok auf Leerfahrt (ohne Waggons mit Kali) auf dem Bahndamm von Dankmarshausen (DDR) durch die Zonengrenze in den 1970er Jahren nach Widdershausen, im Vordergrund schon der neue Metallgitterzaun
Eine Zollstreife und eine BGS-Streife auf dem Bahndamm vor Dankmarshausen (DDR) 1980, dies ist genau die Stelle vom Grenz-Zwischenfall 1963 von dem der BGS-Beamte Herbert Böckler berichtet
Unsere Ankunft blieb unbemerkt und wir kehrten zum Streifenfahrzeug zurück, wo uns unser Hauptmann voller Ungeduld empfing und anfragte, warum es hier denn nicht weiterginge. Ich erklärte ihm die Lage und wir hielten Kriegsrat.

Ich schlug vor, dass er sich zunächst mit dem Kraftfahrer und dem Streifenfahrzeug zu dem Wendehammer an der Dankmarshäuser Grenze unterhalb des Bahndammes zu begeben und die Gruppe aus dem Osten auffordern sollte, unverzüglich das Gebiet der Bundesrepublik zu verlassen. Währenddessen solle der Rest der Truppe ungesehen im Hintergrund bleiben, sichern und abwarten. Dann könne man immer noch der Funk absprechen, was zu tun sei.

Der Hauptmann fuhr mit seinem Begleitern zu besagten Ort und sagt den abgesprochenen Spruch gleich auf. Er erntete dafür nicht nur lautes Gelächter sowie Hohn und Spott, sondern sah sich mit den übelsten Beschimpfungen und Beleidigungen konfrontiert. Der schwer beschimpfte, beleidigte und in seiner Offiziersehre gekränkte Hauptmann war dicht vor dem platzen. Er drehte sich um, ging einige Meter zur Seite und sprach unbeobachtet in sein Funkgerät. Als er sich meldete, fragte ich kurz und knapp Hauptmann sollen wir dem Spuk ein Ende bereiten, er antwortete ich bitte sehr darum aber ohne Verluste.
Eine Diesellok auf Leerfahrt (mit leeren Kali-Waggons) auf dem Bahndamm von Dankmarshausen (DDR) durch die Zonengrenze nach Widdershausen, und weiter zum Bahnhof am Kaliwerk Wintershall in Heringen
Die Aufmerksamkeit der Eindringlinge auf den Bahndamm galt nun ausschließlich dem Hauptmann und seinem Begleiter, die mit weiteren bösartigen Beschimpfungen und Beleidigungen bedacht wurden. Währenddessen arbeitete sich der Rest der westlichen Streitmacht unbemerkt am jenseitigen Hang des Bahndamms hinauf. Auf Kommando sprangen wir, das heißt meine Kameraden und ich, dann ca. 10 m vor den völlig überraschten Grenzverletzern aus dem Osten mit vorgehaltenen Waffen auf den Bahndamm. Ich schrie die verdutzten Eindringlinge an: Waffen fallen lassen und sofort über die Grenze verschwinden, sonst knallt es!

Die Wirkung war beeindruckend und hatte die sofortigen, von uns gewünschten Folgen. Einer der Stasi Männer im langen Mantel und Schlapphut begriff wohl als erster den Ernst der Lage, schnallte sein Koppel ab, ließ es mitsamt der Pistole auf den Bahndamm fallen, murmelte einige Anordnungen und drehte sich zum Abmarsch bereit gegen Osten um. Es klirrte und schäpperte auf dem Bahndamm, als die Waffen auf den Schotter fielen. Alle Eindringlinge drehten sich um und begannen ohne ihre Waffen mit dem Rückzug. Wir setzen sofort mit schussbereiten Waffen bis zur Grenzlinie nach und forderten einen zügigen Rückzug bis weit hinter die Grenze.
Eine Diesellok auf Leerfahrt (mit leeren Kali-Waggons) auf dem Bahndamm von Dankmarshausen (DDR) durch die Zonengrenze nach Widdershausen, und weiter zum Bahnhof am Kaliwerk Wintershall in Heringen, die Bahnlinie durch Dankmarshausen war durchgehend mit einem Metallgitterzaun gesichert.
Diesem Ansinnen folgten alle und verschwanden dann im Dunst hinter einer Biegung der Bahntrasse. Vor diesem unfreiwilligen und durch uns erzwungenen Rückzug hatte uns einer der Stasi Männer noch unmissverständlich und wutentbrannt gedroht: das werdet ihr noch büßen, dass schwöre ich euch-

Nachdem die "Aktion Bahndamm" beendet und der Gegner außer Sichtweite war, sammelten wir die weggeworfenen Pistolen und Maschinenpistolen ein. Der Rest war dann schnell erledigt. Wir entnahmen die Magazine und legten sie unmittelbar hinter der Grenzlinie zusammen mit den Beutewaffen am Rande der Böschung zwecks Abholung durch die Eigentümer ab.

Unser Hauptmann vergatterte uns, über den Vorfall absolutes Stillschweigen zu bewahren, ansonsten könnte es zu Hause Komplikationen geben. Auf keinen Fall sollte bezüglich des Zwischenfalls eine offizielle Meldung durch die Grenzstreife erfolgen. Er wisse selbst, was zu tun sei und übernehme die alleinige Verantwortung. Dann fügte er mit einem breiten Grinsen hinzu von trübem kommt sowieso nichts, die wissen genau, dass sie Mist gebaut haben und sind nach ihrem ungewöhnlichen Rückzug ohnehin die Blamierten.

Literatur:
Herbert Böckel, Grenzerfahrungen, Der kalte Krieg an einer heißen Grenze, Berichte und Erlebnisse eines "West-Grenzers", Parzellers Buchverlag, Fulda, 2009, Seite 56-61, ISBN: 978-3-7900-0421-2

Herbert Böckel, Der zweifache Tod im Schatten der Grenze, Dokumentation eines Dramas, Art Print GbR Fulda, 2012, Printed in Germany, ISBN: 978-3-00-037161-5

Jürgen Urnau, Freiheit verpflichtet, Die Bad Hersfelder Grenzschutzabteilung und die innerdeutsche Grenze entlang der Landkreise Hersfeld-Rotenburg und Werra-Meißner, Bad Hersfeld 2012, ISBN: 978-3-00-036907-0

Herbert Böckel, Deutsche Grenzgeschichten, Von Grenzern, Opfern, Tätern und der Stasi, Art Print GbR Fulda,
2018, Printed in Germany, ISBN: 978-3-00-054987-8

Klaus Hartwig Stoll, Das war die Grenze, Erlebte Geschichte an der Zonengrenze im Fuldaer, Geisaer und Hünfelder Land von 1945 bis zur Grenzöffnung,  Parzellers Buchverlag, Fulda, 1997, ISBN: 3-7900-0281-X

BGS Beamte an der Grenze bei Dippach (heute Ortsteil vom Werra-Suhl-Tal) am historischen Igelsdorf 1962, heute verläuft hier die Landstraße 2171 nach Leimbach und Widdershausen
Der BGS-Beamte Herbert Böckel mit Kollegen an der Grenze in Kleinensee 1963, an dieser Stelle wurde später auch eine Mauer durch DDR-Grenztruppen gebaut
Grenzerfahrungen von Herbert Böckel, einem ehemaligen BGS-Beamten
Der 2-fache Tod im Schatten der Grenze von Herbert Böckel, einem ehemaligen BGS-Beamten
Deutsche Grenzgeschichten von Herbert Böckel, einem ehemaligen BGS-Beamten
Das war die Grenze von Klaus Hartwig Stoll
Besucherzaehler
© 1998-2025
Google

» World Wide Web » X5 Helpsite

Zurück zum Seiteninhalt